»Zu meiner Mitte«

Eine imaginationserfahrene Frau will zu ihrer Mitte imaginieren. Die Mitte ist der Ort, an dem sich wesentliches zeigen kann. Dabei erlebte sie ihr Sein (Da-Sein) als etwas Gegebenes, als etwas, das nicht zu hinterfragen oder in Frage zu stellen ist. Ich begleite sie ohne Wertgestalt in ihre innere Welt. Beim Einstieg sieht die Imaginandin neben sich die „Ursprüngliche“ (den unverfälschten und ursprünglichen Teil ihrer Person), jedoch nur so lange, wie sie sich selbst nicht als ursprünglich erlebt.

Ausstellung

Zunächst zeigen sich verschiedene Bilder und die Imaginandin wartet darauf zu, dass sich eines der Bilder stabilisiert. Schließlich befindet sie sich in einer Bilderausstellung und steht mit ihrer „Ursprünglichen“ an der Seite vor einem großen Ölgemälde. Es erweckt ihr Interesse, denn es zeigt viele Szenen des täglichen Lebens. „Da lässt sich ganz viel entdecken“, sagt sie, „eine große Vielfalt“. Sie sieht ein Dorf, Menschen und Menschengruppen, die auf den umliegenden Feldern ihren Tätigkeiten nachgehen. Der Raum, in dem das Bild hängt, fühlt sich für sie gut und vertraut an. Er schafft Struktur. Doch sie spürt auch Unzufriedenheit, denn das Leben findet im Bild und nicht im Raum statt, in dem sie steht. Zwischen ihr und dem Bild gibt es so etwas wie eine durchsichtige Wand, eine Trennung, die ihr den Zugang zum Lebendigen verwehrt. Die „Ursprüngliche“ zeigt Mitgefühl und findet es tragisch. Die Imaginandin schaut mit Neugierde auf das Bild, doch dann rutscht es ihr weg. Alles schiebt sich zur Seite, der Raum und das Bild.

Dann ist es ganz hell, wie schneeweißer Nebel, durch den sich langsam die Sonne hindurcharbeitet. Ihre Kontur ist als hellgelbe Scheibe schon zu erkennen, ihr Licht durchdringt allmählich gelblich den Nebel. Die Imaginandin fühlt, wie die Umgebung beginnt, sich weicher und milder anzufühlen. Sie bleibt erstaunt und fasziniert an diesem Eindruck hängen. Die „Ursprüngliche“ beobachtet ruhig und bewertungsfrei, was geschieht. Auf meine Frage, wie sich das Helle anfühlt, sagt die Imaginandin: „Wie Zitronensorbet“, sie meint damit, „kühl, luftig und leicht“. Kleine blinkende Kristalle zeigen sich vor ihrem inneren Auge. Die Imaginandin fühlt sich leicht, erleichtert und entspannt. „Es ist fröhlich, wie an einem Frühlingstag“ sagt sie. „Die Luft riecht gut. Freundlichkeit teilt sich mit.“ Ich rege sie dazu an sich von der Leichtigkeit ausfüllen zu lassen. Die helle Leichtigkeit macht sie innerlich weiter. Ich rege sie weiter an auch die Weite in sich zuzulassen. „Das tut ihr gut, unendlich gut, nicht eingegrenzt zu sein“, sagt sie. Man bedenke, dass vor mir ein Typus 1 sitzt, der um seine Freiheit ringt und von vielen Begegnungen mit seinem Gegenspieler zu erzählen weiß, der sie im Leben immer wieder massiv eingeengt und ihrer Freiheit bis in den Zwang beraubt hat.

Berggipfel

Dann sagt sie: „Das Landschaftsgemälde ist nun in mir“, ein Hinweis für mich, dass sie sich nun lebendiger fühlt. Vor ihrem inneren Auge entsteht eine Landschaft. Diesmal aber nicht als Bild an der Wand, sondern als eine reale Landschaft, in der sie sich befindet. Die durchsichtige Wand ist nun weg. Auch die „Ursprünglichen“ ist verschwunden (in ihr aufgegangen). Sie sieht eine weite Alpenlandschaft mit Bergen und Tälern. Sie selbst steht oben auf einem Berg und blickt um sich. Von dort aus sieht sie weite Ferne und spürt diese Weite auch in sich selbst. „Es ist wie über den Dingen stehen“, sagt sie (wenn Geist in uns lebendig wird, dann fühlen wir uns nicht mit den Dingen verhaftet, sondern haben Abstand zu den Dingen). Mir wird deutlich, dass die Bergkuppe gerade einmal Platz zum Stehen bietet und keinesfalls weitläufig ist. Es könnte hier einem leicht schwindelig werden und man könnte das Gleichgewicht verlieren. Doch ganz das Gegenteil ist in der Imagination der Fall. Die Imaginierende fühlt sich völlig stabil und sicher. Der Punkt hat eine starke Energie und es tut der Imaginierenden gut, diesen Punkt zu spüren und mit einem offenen Blick in die Weite zu schauen. Im realen Leben mag sie es genau umgekehrt erleben, denke ich mir. Da steht sie eher auf einer weiten Fläche mit eingeengtem Blick.

Sie sagt: „In der Mitte sein, heißt, zentriert zu sein, im Gleichgewicht zu sein, von alleine, ohne Anstrengung zentriert zu sein und gleichzeitig innerlich frei, weit und offen in die Welt schauen zu können.“ Sie genießt es einmal nicht im engen Tal, sondern weit oben über den Dingen zu stehen und ihren „Standpunkt“ im wahrsten Sinne des Wortes zu spüren. Wie fühlt sich dieser „Standpunkt“ an, frage ich. Sie sagt: „Das ist mein Sein, von da aus schaue ich. Und ich bestimme mit meinem Blick, wie weit der Horizont reicht.“ Nach einer Weile, sagt sie weiter: „Es ist so widerspruchslos hier. Es ist gegeben, das ich da stehe. Ich habe es nicht gemacht, dass ich bin. Ich bin da, ich bin mit mir eins.“ Und weiter: „Da oben ist es ganz neutral. Ich bin zentriert, im Gleichgewicht. Wie eine Selbstverständlichkeit. Weil ich bin, sind mir Möglichkeiten gegeben. Ich muss was daraus machen. Es macht keinen Sinn, das Dasein in Frage zu stellen. Ich kann ihm nicht ausweichen. Gegen das Sein zu toben nützt nichts. Das Sein ist gegeben. Ich bin dahin gesetzt worden. Es ist mir gegeben zu schauen. Im Schauen spüre ich, dass ich bin.“

Werte für unser Leben