»Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«

Yin Yang

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.“ Diese Feststellung ist Ausdruck des tragisches Dilemma, in dem Goethes melancholischer Doktor Faust steckt. Er fühlt sich zerrissen zwischen den beiden Großmächten seiner inneren Welt, zwischen seinem Streben nach dem Gefühl einer erhabenen Rationalität und seinem Drang zu körperlichen Freuden und Sinnlichkeit. Um seinen ungeheuren Wissensdurst zu stillen, hat er „mit heißem Bemühen…“ „Philosophie, Juristerei, Medizin und Theologie“(I,344 356) studiert – nur um festzustellen, „dass wir nichts wissen können“ (I,364). Faust fühlt sich von allen guten Geistern verlassen und wendet sich der schwarzen Magie zu. Er geht einen Pakt mit dem Teufel ein, da dieser ihm verspricht, trotz dieser Zerrissenheit glücklich zu werden. Das führt ihn allerdings nicht aus dem Dilemma heraus, sondern in immer kompliziertere Verstrickungen hinein.

Die tragische Faust-Thematik ist seit dem 16. Jh. unzählige Male literarisch bearbeitet worden. Offensichtlich ist dies ein Stoff, der die Geister und Gemüter der Menschen immer wieder aufs neue herausfordert, denn die scheinbar widerstrebenden Kräfte in unserer inneren Welt sind Teil unseres Lebens. Sie gehören zu uns, so lange wir leben. Sie halten uns in Bewegung, ja, sie halten uns letztlich am Leben. Im Faustmythos geht es um den hintergründigen Sinn der menschlichen Existenz, um den Menschen in der Zerreißprobe zwischen hellen und dunklen Mächten. Er ist vor die Frage gestellt, wie sich sein konkretes Leben mit diesen Kräften gestalten lässt. Unsere Persönlichkeit reift, wenn wir aus dem Dilemma der inneren Zerrissenheit herauszukommen und beide Kräfte als einen integralen Bestandteil unserer Existenz verstehen und nutzen lernen.

Mir kommt es so vor, als ob das scheinbar Widerstrebende in uns immer dann besonders deutlich zu Tage tritt, wenn wir das Vorhandene in uns als gut und schlecht kategorisieren und dem scheinbar Schlechten in uns ablehnend gegenüber stehen. Jede Selbstablehnung erzeugt innere Spannung, als ob das schlecht bewertete um seine Position im Dasein ringen würde. Eine Imagination zum Wert der Offenheit konnte mir zeigen, dass sich die innere Spannung auflösen kann, wenn wir offen sind für das, was in uns ist. Dem offenen Menschen ist letztlich alles willkommen, was da ist. Die verschiedenen Qualitäten schließen sich für ihn nicht aus, sondern ein. Sie können nebeneinander existieren. Die Möglichkeit der Koexistenz von scheinbar unvereinbaren Gegensätzen zeigt uns die innere Welt immer wieder in den Wertimaginationen, wenn wir nach Werten fragen und in den Bereich des Geistig Unbewussten gelangen.

Fazit: Es lohnt sich nicht die Dinge abzulehnen, die da sind. Denn Ablehnung macht sie nicht kleiner, sondern größer.

Die Imagination ist kurz erzählt:

AUGUSTE RODIN - LE PENSEUR - DER DENKER - 1880

Zunächst erscheint ein Bild von der „dunklen“ Seite meiner Seele. Ein versteinert wirkender Mann sitzt bewegungslos und scheinbar denkend in sich versunken vor mir. Doch er denkt nicht wirklich, zumindest nicht aufbauend oder erfüllend. Er betreibt eher eine Art inneres Abwarten, das ihn versteinern lässt und zu keinerlei Veränderung im Innen oder Außen führt.

Zur Abgrenzung von dieser Seite verschränke ich meine inneren Arme, drehe mich um 180° und warte auf den Gegenpol. Die helle Seite meiner Seele zeigt sich. Ich sehe mich lebensfroh tanzend. Indianer sitzen im Kreis. Ich sitze unter ihnen und fühle mich als Teil der Runde. Am Ende der Imagination schaue ich suchend mit neugierigen Entdeckeraugen in die Welt.

Meine Gedanken zu den inneren Bildern:

Die Seele hat mir gerade zwei Seite meiner selbst gezeigt. Die erste könnte man als die „geistlose Seite“ benennen, die zweite als die „von Geist erfüllte Seite“. Wie mich die beiden Seiten im Leben „beeindrucken“, wird davon abhängen, wie ich mit ihnen umgehe. Bewerte ich die zuerst gesehene „geistlose Seite“ als negativ und lehne sie deshalb ab, wird sie um ihre Existenz so lange in mir kämpfen und mich nicht zur Ruhe kommen lassen, bis ich sie als Teil meiner selbst zur Kenntnis nehme und sie anerkennend in mein Selbstbild integriere. Die „von Geist erfüllte Seite“ werde ich dagegen sehr viel leichter als die Willkommene anerkennen können. Mein Selbstbild wäre jedoch unvollständig und ich würde mich im Ungleichgewicht befinden, wenn ich so täte, als sein ich immer nur dynamisch und von Geist erfüllt. Das wäre nur Wunschdenken, aber keine Realität. Es gehört zu meiner Natur, dass ich manchmal wie versteinert dasitze. Dynamik und Stillstand sind die beiden Qualitäten, die nicht nur zu mir gehören. Es gibt kein Leben, dass immer nur bewegt ist.

Werte für unser Leben